Die Digitalisierungs-Prozesse werden uns in den kommenden Jahren online weiter vernetzen. Dadurch werden Kontakte im analogen Leben an einigen Stellen noch mehr verdrängt.
Das soll nicht heißen, dass wir alle zu digitalen Zombies werden. Solche und ähnliche Befürchtungen können wir zum Beispiel wahrnehmen, wenn es um Marc Zuckerbergs „Metaverse“ oder um die Boden-Ampeln für Smartphone-Nutzer in Tel Aviv oder um die extra Spuren für Smartphone-User auf den Fußwegen in Vilnius und Chongqing, die Unfälle vermeiden sollen, geht.
Die Frequenz der Kontakte steigt im digitalen Raum, die Intensität dieser Kontakte verringert sich im Durchschnitt deutlich
Auf der einen Seite fallen so viele zufällige Kontakte und Gespräche mit anderen Menschen weg, etwa wenn wir in öffentlichen Verkehrsmitteln in Mails, Messenger, Instagram und Co. vertieft sind, Supermarktkassen durch Self-Scanner oder Busfahrerinnen und Busfahrer durch autonom fahrende Systeme ersetzt werden. Andererseits treffen wir in digitalen Sphären Menschen, denen wir sonst am Bahnsteig, an der Supermarktkasse oder im Bus wahrscheinlich nie begegnet wären.
Die Nutzung des digitalisierten Angebotes fördert die Einsamkeit
Dadurch, dass immer mehr analoge Kontaktpunkte verloren gehen, bemerken wir in der gesellschaftlichen Entwicklung, dass Menschen durch die Digitalisierung schneller vereinsamen. Dies scheint nunmehr durch Studien auch belegt werden zu können.
Der persönliche Kontakt schafft Verbindung und nährt die Freude und das Mitgefühl
Wenn wir Menschen miteinander sprechen, nehmen wir uns gegenseitig sehr genau wahr, weil wir die Fähigkeit besitzen, die kleinsten Veränderungen in der Intonation, im Timbre der Stimme, im Gesichtsausdruck, Körperhaltung, Sprechtempo wahrzunehmen. Wie ein Schwarm Stare bilden diese verschiedenen Wahrnehmungen dann einen einzigen Organismus. Wir sind miteinander durch eine psychische Membran verbunden, die die kleinste Veränderung in Körper und Seele überträgt. In jedem noch so belanglosen Wortwechsel zeigen wir Menschen uns als perfekte Tanzpartner. Wir sind durch die ewige Musik unserer Sprache auf eine ganz subtile Weise vereint. Dabei begegnen wir uns öfter in Liebe und Mitgefühl, als uns das tatsächlich bewusst ist. Unser „Autopilot“ übernimmt die Begegnung und verhindert dabei die Kraft der bewussten, achtsamen Wahrnehmung.
Dieses komplexe Kommunikations-Phänomen verändert sich deutlich, wenn es digitalisiert wird
Digitale Interaktionen haben eine gewisse Verzögerung und schließen bestimmte Aspekte wie Geruch, Geschmack, Haptik und Temperatur des Kontakts aus. Digitale Interaktionen, wie telefonieren, WhatsApp, Skype, Zoom, usw. sind sehr selektiv, denn wir sehen oft nur das Gesicht einer Person und unsere Gedanken erzeugen gleichzeitig die ständige, unangenehme Vorahnung, dass die Verbindung gleich abreißen könnte. Infolgedessen empfinden wir digitale Interaktionen nicht nur als zurückhaltend und steif, sondern geben uns auch das Gefühl nicht Verbunden zu sein, da wir den anderen nicht wirklich „körperlich“ spüren oder riechen können.
Gianpiero Petriglieri, Professor für Organisationsverhalten sagt: "Bei digitalen Interaktionen wird unserem Verstand vorgegaukelt, dass wir zusammen sind, aber unser Körper bemerkt, dass wir es nicht sind. Das was digitale Gespräche so anstrengend macht, ist das ständige Gewahrsein von körperlicher Abwesenheit der anderen Person."
Von diesem Standpunkt aus können wir einen direkten Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Depressionen entdecken. In der klassischen psychoanalytischen Theorie wird die Depression mit der frustrierenden Erfahrung von Hilflosigkeit verbunden, die durch die Passivität oder Abwesenheit einer geliebten Person, in der Kindheit, meist ein Elternteil, hervorgerufen wird. In der Folge bezahlen depressive Menschen den "Anderen" mit der gleichen Währung: Sie selbst werden passiv (d. h. depressiv).
Die digitale "Verbindung" führt zu einer ähnlichen Dynamik: Wir können uns hilflos gegenüber einem Anderen fühlen, den wir als abwesend und unerreichbar erleben, und reagieren mit Frustration, Passivität und mit einem Gefühl der Erschöpfung.
Die Digitalisierung entmenschlicht ein Gespräch
Dies geschieht meist versteckt und schleichend, aber manchmal ist es auch sehr deutlich zu spüren, wie ein aktuelles Beispiel aus der psychotherapeutischen Praxis zeigt:
Eine Frau Anfang vierzig wacht eines Nachts mit blutverschmierten Händen auf und stellt fest, dass sie eine Fehlgeburt hat, mit einem Baby, nach dem sie sich ihr Leben lang gesehnt hat. Sie bittet den Therapeuten weinend um ein Gespräch - ein "richtiges" Gespräch in Präsens.
In einer solchen Situation kann jeder von uns spüren, dass die digitale Kommunikation für die Worte nicht geeignet ist, in denen das Drama seinen Ausdruck sucht. Ein digitales Gespräch in einer solchen Situation anzubieten, erscheint in der Tat fast unmenschlich, es sei denn, es gibt wirklich keine andere Möglichkeit. Mitgefühl braucht Nähe und echte Zuwendung.
Ähnliche Beispiele lassen sich auch aus dem Bildungsbereich ableiten, denn die Begeisterung des Lehrers, die in einem Klassenzimmer fast körperlich spürbar ist, verträgt die Reise durch ein Glasfaser-Kabel nicht. Arbeitsumgebungen, die Unterstützung eines Projektleiters brauchen, werden in einem Online-Meeting verwässert. Der Versuch, eine schwankende Liebe, mit all den sprachlichen Qualen, die sie kennzeichnen, durch Online-Kommunikation zu retten, kann noch mehr Distanz als Nähe erzeugen.
Fast jede Situation, in der eine Person mitfühlend und vollständig in ihrer Menschlichkeit begleitet werden möchte, sollte nach Möglichkeit nicht digital durchgeführt werden.
Wenn die digitale Kommunikation uns eher schadet, warum sind dann digitale Interaktionen so attraktiv? Warum haben wir schon lange vor der Coronavirus-Krise das miteinander Plaudern zugunsten von Text- und WhatsApp-Nachrichten aufgegeben?
Es ist sehr bequem, auf diese Weise mit Menschen zu kommunizieren, die weit weg sind, das ist sicherlich richtig. Aber da ist noch ein weiterer, psychologischer Faktor im Spiel: Unsere sozialen Bedürfnisse sind darauf ausgerichtet, eine Mangelerscheinung zu beseitigen, die auf der fehlenden Nähe zu anderen Menschen beruht. Als soziale Wesen sind wird abhängig davon, dass wir uns mit anderen Menschen austauschen. Wir werden von anderen Menschen geliebt und erwidern ihre Zuneigung. Ungewissheit und Unsicherheit sind die herausragenden Charakteristika der menschlichen Erfahrung - kein anderes Lebewesen wird so sehr von Zweifeln oder existenziellen Fragen geplagt - und das gilt besonders für unsere Beziehung zu anderen Menschen. Um uns in unserem sozialen Umfeld akzeptiert zu fühlen, stellen wir häufig Fragen wie: „Wie kann ich dem Anderen Gutes tun?“ "Mag er mich?“ "Findet er mich attraktiv?“ „Bedeute ich ihm etwas?" "Was will er von mir?“
In einem digitalen Gespräch, in dem der Andere buchstäblich auf Distanz gehalten wird, aber dennoch erreichbar ist, werden diese ewig quälenden Fragen und die damit verbundene Unsicherheit und Angst weniger akut. Das Bedürfnis nach Kontrolle ist in diesem Moment viel größer. Es ist in der digitalen Kommunikation einfacher, selektiv einige Dinge zu zeigen und andere zu verbergen. Zusammengefasst kann ich sagen, dass wir Menschen im digitalen Austausch unser Sicherheitsbedürfnis nähren und wir uns oft wohler fühlen, hinter einer digitalen Wand zu stehen. Den Preis, den wir dafür zahlen, ist der Verlust von Verbundenheit.
Die Digitalisierung und Mechanisierung unserer Welt kann dazu führen, dass wir Menschen den Kontakt zu unserer Umwelt verlieren und zum atomisierten Subjekt werden. Hannah Arendt* sieht dies als den wesentlichen Bestandteil eines totalitären Staates.
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Hannah Arendt wurde am 14. Oktober 1906 als Johanna Arendt in Linden geboren, heutiger Stadtteil von Hannover. Gestorben ist sie am 4. Dezember 1975 in New York City. Hannah Arendt war eine jüdische deutsch-US-amerikanische politische Theoretikerin und Publizistin.
Buchtip: Hannah Arendt, Die Freiheit, frei zu sein.